Gerhard Altenbourg im Detail //1 - Betrachtung der Unendlichkeit

Gerhard Altenbourg (1926–1989)
Betrachtung der Unendlichkeit, 1956
Chinesische Tusche auf Kunstdruckpapier
47 x 61 cm
Lindenau-Museum Altenburg
WV 56/88

„Wer kann noch so arbeiten, wo nimmt der die Zeit her? Soviel Zeit gibt es doch gar nicht (…)“ fasst der Schriftsteller und Bibliothekar Erhart Kästner im Jahr 1971 sein Staunen angesichts der langsamen Arbeitsweise Gerhard Altenbourgs zusammen – ein Staunen, das den Betrachter im Zeitalter digitaler und sozialer Beschleunigung des 21. Jahrhunderts umso mehr umweht. Für die Arbeit „Betrachtung der Unendlichkeit“ trifft dies im Besonderen zu. Das mit Feder und Pinsel in chinesischer Tusche ausgeführte Blatt besticht durch sein All-over samtig weicher Striche, die sich kompromisslos nebeneinanderlegen und stellenweise überlagern (mit „All-over“ wird eine flächendeckende Malerei bezeichnet, die sich über den gesamten Grund erstreckt). Für das rechte untere Viertel verwendete Altenbourg einen dunkleren Ton. An einigen Stellen verdichten sich die vertikalen Striche zu geschwungenen Linien, die von Ferne betrachtet geschriebenen Zeilen ähneln, als seien die Mikrogramme – eine extrem kleine, schwer lesbare Handschrift des von Altenbourg verehrten Schweizer Schriftstellers Robert Walser – in den Teppich eingewoben. In der linken Bildhälfte gibt ein gestaltloses Gebilde den Blattgrund frei. Pinselspuren markieren darin geballte Energie, die sich in einem bis über den rechten Blattrand laufenden Strahl entlädt.

Dem minutiösen, in stundenlanger Arbeit entstandenen Samtteppich steht die beschleunigte Energieentladung der im Gesamtgefüge markierten freien Flächen gegenüber. Diese könnte man als aufplatzende Wunden deuten – als das in autoritärer Erziehung und an der Front erfahrene Leid, das der junge Altenbourg in den Jahren nach 1945 wie viele andere Künstler seiner Generation künstlerisch zu verarbeiten versuchte. Ihren Ort auf dem Papier genau zu bestimmen, ist unmöglich. Die im Titel anklingende fehlende Dimension der Zeit hat die fehlende Dimension des Raumes zur Folge. Unendlichkeit ist überall.

 

„Im Gras der Hügel verborgen in der Betrachtung dieser Unendlichkeit (…)“ heißt es in einem Gedicht Altenbourgs in „terra terra et aethera“ (WV 73/24): Des Nachts im Gras liegen und die Sterne beobachten. Die Lichtbahnen verglühender Sternschnuppen. Vor dem Hintergrund der in den Nachkriegsjahren dominierenden philosophischen Strömung des Existenzialismus sucht hier ein in die Welt Geworfener seinen Ort.

Die Zeichnung entstand wenige Monate nach dem Tod des Malers Jackson Pollock im Sommer 1956, dessen Werdegang Gerhard Altenbourg aufmerksam verfolgte. Das in Schwarz und Weiß gehaltene All-over in „Betrachtung der Unendlichkeit“ könnte als Reminiszenz an den amerikanischen Künstler und Erfinder des „Action Painting“ gelesen werden – wenn nicht gerade der Herstellungsprozess grundsätzlich verschieden wäre: Hier die meditative Entdeckung der Langsamkeit im Weben eines Zeitteppichs, dort die im Bewegungsrausch komponierte Struktur. (Beispiel: Jackson Pollock "Autumn Rhythm, (Number 30)"). Doch war die Führung der Feder (Altenbourg) oder des tropfenden Pinsels (Pollock) hier wie dort eine vitale Möglichkeit, die existentielle Erfahrung des Geworfenseins in Geborgenheit zu transformieren.

Im Jahr 1959 stellte Altenbourg neben Pollock auf der documenta II in Kassel aus. Am 30. Dezember 1989 starb Altenbourg bei einem Autounfall – wie sein amerikanischer Kollege dreiunddreißig Jahre zuvor.

 

Zurück

Kommentare

Einen Kommentar schreiben

Bitte rechnen Sie 2 plus 9.
Diesen Artikel teilen