Max Beckmann, Stadtnacht, Kreidelithografie, 1920

27,3 x 22,4 cm, Inv.-Nr. 2H 123-3

Max Beckmann, Stadtnacht, Kreidelithografie, 1920

Nach einem Nervenzusammenbruch während des Ersten Weltkrieges freundete sich Max Beckmann mit der Tochter seines Heeresbeamten, Lily von Braunbehrens (1894–1982), an. Die seit Geburt fast erblindete Lyrikerin hielt ihre persönlichen Eindrücke von nächtlichen Streifzügen durch Frankfurt in zwanzig Gedichten fest, welche Beckmann für sie illustrierte. Die Sammlung "Stadtnacht" beginnt mit dem Blick auf einen grausamen Mord, der durch das Fenster eines Mietshauses beobachtet wird. Auf dem Titelblatt wird deutlich, dass die moderne Großstadt keine Zuflucht, nicht einmal mehr ein Zuhause, bietet. Die Illustration des Gedichtes "Trinklied" zeigt eine vergnügte Gruppe von Neureichen, die den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenbruch ihrer Umgebung scheinbar nicht wahrnehmen, während eine Bordellszene die menschliche Interaktion als Ware darstellt. Die übrigen Bilder zeigen die Hoffnungslosigkeit des Lebens der Arbeiterklasse. In den meisten Grafiken ragen Figuren aus den beengten und verzerrten Räumen heraus und verstärken das Gefühl der Entfremdung und Einsamkeit. In seiner Illustration des Gedichts "Verbitterung" zeigt Beckmann sich selbst durch ein Fenster nach draußen blickend. Kompositorisch wirkt er durch einen Vorhang isoliert, wodurch die Einsamkeit in der Großstadt versinnbildlicht wird. Auf dem letzten Blatt "Die Kranke" zeigt Beckmann eine abgemagerte Gestalt in einem spärlich möblierten Zimmer, die allein dem Ende zugewandt ist. Im gesamten Gedichtzyklus verwendete Beckmann expressionistische Techniken der Verzerrung und Übertreibung, um das Versagen der Nachkriegsgesellschaft zu unterstreichen.

Gegen den Widerstand der Familie entschied sich Max Karl Friedrich Beckmann für eine künstlerische Laufbahn. Charakteristisch für seine Arbeiten, in denen eine Entwicklung vom Impressionismus bis zum Expressionismus lesbar ist, ist seine zeitkritische und ironisierende Haltung. Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten im Jahr 1933 musste Beckmann seine Lehrtätigkeit an der Städelschule niederlegen und seine Kunst wurde als "entartet" verfemt. Zehn Jahre nach seiner Flucht nach Amsterdam im Jahr 1937 wurde er Professor an die Washington University Art School in St. Louis. Er starb im Central Park in New York an einem Herzinfarkt.

Max Beckmann (1884–1950)
Stadtnacht
Kreidelithografie, 1920
27,3 x 22,4 cm
Inv.-Nr. 2H 123-3

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