175 Jahre Lindenau-Museum Altenburg: Festrede von Prof. Dr. Arnold Nesselrath zum Jahresempfang der Altenburger Museen
Es ist großartig, dass das Lindenau-Museum mit dem Konzept seines Stifters 175 Jahre alt wird. Und es ist bemerkenswert, dass dieser Anlass trotz der notwendigen und zukunftsorientierten Umbauten mit der einhergehenden Schließung gebührend gefeiert wird. Seit vielen Jahren bin ich ein begeisterter Anhänger des Museums und noch mehr der Vision und des Konzeptes Bernhard August von Lindenaus (1779–1854) und seiner Kunstschule für die Jugendlichen der Region, denn: Kultur kommt nicht nur aus den großen Metropolen, dort gedeiht sie lediglich und wird allzu oft ausgebeutet – heute vor allem durch die globalisierte Tourismusindustrie. Kultur entsteht vielmehr in der Provinz, sie wird von Menschen hervorgebracht und lebt von der Individualität ihrer Schöpfer, sie braucht eine breite Grundlage und Vielfalt!
Bernhard August von Lindenau (1779–1854) hatte sich das Revolutionsjahr 1848 für seine Stiftung gewiss nicht ausgesucht; genauso wenig war sie eine Reaktion auf das im Februar desselben Jahres erschienene Kommunistische Manifest von Karl Marx (1818–1883) und Friedrich Engels (1820–1895). Dennoch entstanden seine Schule und Sammlung in einem Klima fundamentaler kulturhistorischer Dynamik in einer sich international grundsätzlich verändernden Gesellschaft: William Morris (1834–1896) fing in jenen Jahren an, die Kunst in England auf ein neues, gesellschaftliches Fundament zu stellen. Etwa zeitgleich entstanden in Mettlach an der Saar die Sammlung und Zeichenschule, die Eugen von Boch (1809–1898) in seiner Keramikfabrik, die wir heute als Villeroy & Boch kennen, eingerichtet hatte. Zwar lieferten die Städelsche Kunstschule und Sammlung ein halbes Jahrhundert vorher ein Vorbild und boten mittellosen Kindern ohne Ansehen von Geschlecht und Religion einen Zugang zu Bildung und Kunst, jedoch stellte die Frankfurter Metropole ein ganz anderes Umfeld dar als das ländliche oder industrielle, für das sich Lindenau und Boch engagierten.
So ähnlich die Bestrebungen der unterschiedlichsten Stifterpersönlichkeiten und Protagonisten sind, allen Gesellschaftsschichten die Möglichkeit zu geben, ihre Kreativität zu entdecken, zu entfalten und dadurch einen Beitrag zur Gemeinschaft zu leisten, so vielfältig sind die Objekte, die sie als Anschauungssammlung erwarben. Bei Boch handelt es sich dabei eher um antike Objekte unter einer besonderen Einbeziehung der Provinzarchäologie neben den griechischen Vasen – vielleicht ist das auch dem Umfeld der Fabrikproduktion geschuldet. Lindenau wagte es, wie Städel, trotz der Konkurrenz vor allem aus Berlin ein Museum aufzubauen, das mit seiner Sammlung von italienischer Malerei der Frührenaissance bis heute eine der eindrucksvollsten Sammlungen nicht nur in deutschen Landen, sondern ganz allgemein nördlich der Alpen darstellt. Aus diesem Museum wurde ein umfassendes Bildungsprogramm, indem Kopien nach für ihn nicht erreichbaren Bildern, eine beachtliche Gipsabguss-Sammlung nach antiken, aber auch nach-antiken Skulpturen, seinerseits eine Sammlung antiker Vasen und schließlich Korkmodelle von antiken Bauten, die die wichtige architektonische Komponente repräsentierten, hinzukamen.
Unterschiedliche Gründe sind denkbar, warum Lindenau mit seiner Stiftung von Kunstschule und Museum aus Dresden, wo er kulturpolitisch bedeutende Akzente gesetzt hatte, auf seinen vom Vater ererbten Pohlhof zurückkehrte. In Altenburg selbst hat mehr als ein genius loci seine tiefen Spuren hinterlassen. Mit Kaiser Barbarossa (um 1122–1190), Georg Spalatin (1484–1545), dessen Grab die Stadtkirche hütet, oder der reformationsgeschichtlich weitreichenden Unterredung zwischen Martin Luther (1483–1546) und dem päpstlichen Kanoniker Karl von Miltitz (1490–1529), das auf der Altenburger Burg stattfand, fügt Bernhard August von Lindenau seinen Beitrag zu einem interessanten Profil der Stadt hinzu.
Mich hatte Lindenaus Bildungsansatz aus unterschiedlichen Gründen lange fasziniert, als 2011 die damalige Direktorin Jutta Penndorf und die heutige Frau Forster, Leiterin der Kunstvermittlung, vermittelt durch meine Schülerin Sarah Kinzel, mich und meine Bachelor-Studentinnen und -Studenten der Humboldt-Universität zu Berlin einluden. Eine Woche lang überließen sie uns ihr Museum für ein Seminar und geleiteten uns durch alle Abteilungen hindurch, damit die Teilnehmerinnen und Teilnehmer lernen konnten, wie ein richtiges Museum funktioniert. Die ganze Stadt mit dem Schlossberg bis hin zur Superintendentin der Stadtkirche war inbegriffen, so dass das Lindenau-Museum in seinem organischen Umfeld erlebbar wurde. Wir konnten auf diese Weise selbst erfahren, dass Lindenaus großartige Stiftung lebendig war und wie sie fruchtbar gemacht wurde. Aus dem Seminar sind Bachelor-, Magister- und Doktorarbeiten hervorgegangen.
Es ist wichtig, an Lindenaus Einrichtung immer wieder zu erinnern, sie zu feiern und fortzusetzen. Denn ob die Stifter und Protagonisten Bankier oder Adliger, Politiker oder Künstler waren, alle verfolgten damals ein soziales Engagement. Es ist offensichtlich, dass Lindenaus Initiative schließlich in eine europäische Dimension eingebettet war, die ihre Parallelen in den englischen Präraffaeliten, John Ruskin (1819–1900) und etwas später William Morris‘ Arts and Crafts-Bewegung hatte. Es ist verständlich, dass Lindenau vor allem frühe italienische Malerei aus dem Tre- und Quattrocento sammelte und dass diese damals besonders populär war, denn sie war Ausdruck eines großen Aufbruchs in ein verheißungsvolles republikanisches Zeitalter, das natürlich vielerorts bald usurpiert wurde, in dem man aber bis heute den Beginn der Neuzeit, also unseres modernen Zeitalters, sieht. Es ist entscheidend, dass die Kunst von jedem elitären Beigeschmack befreit wurde. William Morris sprach es explizit aus: „I do not want art for a few, anymore than education for a few, or freedom for a few” [„Ich möchte keine Kunst für wenige, ebenso wenig wie Bildung für wenige, oder Freiheit für wenige“]. Kunst für Jedermann heißt dann ganz passend das Buch von Sarah Kinzel zu Lindenaus Sammlung.
Bemerkenswert ist, dass Lindenau und seine ähnlich gesinnten Zeitgenossen der Kultur gegenüber dem Bekenntnis zum allseits propagierten Fortschritt in Industrie und Wissenschaft ihren gesellschaftlichen Stellenwert gaben und sie aktiv mit großem finanziellem Aufwand propagierten. Selbst bei der didaktischen Vermittlung legte Lindenau einen hohen Anspruch an. Er wählte keine wohlfeilen multimedialen Werkzeuge, denn Kopien von Bildern sind selbst Gemälde, Abgüsse von Statuen sind Skulpturen, alle sind durch sensible Grade von Qualität differenziert.
Die Vision von Bernhard August von Lindenau lebt nicht nur in der Gastfreundschaft, die ich mit meinem Berliner Seminar hier genossen habe. Sie hat in ihrer bewegten Geschichte immer wieder aktiv eingegriffen und gewinnt jetzt eine neue Gestalt in dem grandiosen, stets aktualisierten Masterplan für die Altenburger Museen, der in erster Linie die Schulen der Region und die Bürgerinnen und Bürger dieser Stadt und dieser Gegend einbezieht. Er umfasst Infrastruktur bis hin zum Marstall und dem Schlossberg und zeichnet sich durch einen sehr differenzierten Umgang mit dem Tourismus aus, der natürlich ein Wirtschaftsfaktor sein kann, dessen Gefahren und immensen Schäden in materieller, infrastruktureller und gesellschaftlicher Dimension aber in hohem Maße z. B. in Venedig und Florenz, aber auch in Rom zu spüren sind und in dem sich der begrenzte Horizont der Politik bis nach Brüssel manifestiert. Auch Kultureinrichtungen schaffen Arbeitsplätze, natürlich andere als Hotels und Restaurants, aber in unterschiedlichen Sparten der Bildungseinrichtungen für die durch diese angeregten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Kunstvermittlerinnen und -vermittler, Restauratorinnen und Restauratoren oder Kulturschaffenden bis zum Handwerk, Wachpersonal und vielen mehr. Wie Kulturminister Prof. Dr. Benjamin-Immanuel Hoff in seiner vorangegangenen Rede betont hat, steigern Kultureinrichtungen wie Theater, Orchester, Museen etc. die Lebensqualität in der Region enorm und sichern diese nachhaltig. Wir sollten uns daran erinnern, dass mittelalterliche Republiken wie Siena einfach in die Schönheit ihrer Stadt investiert haben, damit sich die Bewohnerinnen und Bewohner selbst daran erfreuten und um sie auswärtigen Gästen einfach nur darzubieten, nicht um diese abzuzocken. Repräsentation wurde ein Wert beigemessen, an dem alle Anteil hatten, der auch alle in einer Gemeinschaft verband. Damit meine ich keineswegs eine Identitätspolitik oder eine Leitkultur, denn bekanntlich hat unsere abendländische Kultur der Griechen und Römer die Null nie erfunden und folglich ganz anders gezählt. Die Null, ohne die heute keine Bilanz und kein Computer funktioniert, verdanken wir den arabischen und islamischen Völkern. Mit Waffen kann man sich vielleicht verteidigen, Frieden stiften sie nicht. Dass man dazu die Kultur braucht, wusste schon Alexander der Große (356 v. Chr.–323 v. Chr.). Es geht also heute darum, der Kultur einen globalen Rang zu sichern. Das bedeutet nicht, sie in Normdaten zu speichern und digital zu zerlegen, sondern sie zugänglich zu machen und ihre Faszination zur Wirkung zu bringen. Die Faszination ist entscheidend! Die eigene Kultur zu verstehen und andere Kulturen ernsthaft kennen zu lernen, führen zu einer wirklichen Integration von Menschen unterschiedlicher Herkunft und Erfahrung. Integration ist keine Einbahnstraße. Dies ist auch eine Botschaft der Sammlung des Bernhard August von Lindenau, denn die frühen Italiener waren dem deutschen 19. Jahrhundert durchaus fremd und eine Herausforderung.
Bildungsprozesse sind lang, deshalb ist das Engagement für Schülerinnen und Schüler sowie junge Menschen allgemein unverzichtbar. Der Umweltschutz wird von politischen Programmen benutzt, um weit über die eigene Verantwortung hinaus zu planen. Umso mehr gedeiht auch der Umweltschutz nur auf dem Fundament der Bildung und einer ästhetischen Wertschätzung. Die Unwirtlichkeit unserer Städte, vor der Alexander Mitscherlich (1908–1982) in den 1960er-Jahren gewarnt hat, ist heute Realität – auch hier ist Altenburg noch eine Ausnahme. In vielen bundesdeutschen Städten haben die sogenannten Stadtsanierungen in der Folge des Wirtschaftswunders mehr zerstört als der Zweite Weltkrieg. Das erfordert zusammen mit den Museen eine solide, kompetente und potente Denkmalpflege. Unsere Umwelt beginnt bei unserer Kultur, bei unserer Architektur, in der wir leben.
Der englische Schriftsteller Oscar Wilde (1854–1900) schrieb 1891 in seinem Essay The Soul of Man under Socialism: “A beautiful thing helps us, by being what it is.“ [„Ein schönes Ding hilft uns, indem es ist, was es ist.”] Darin liegt eine Provokation für Politik und Gesellschaft. Wenn wir den Mut nicht aufbringen, solche Herausforderungen anzunehmen und durch unsere Kultureinrichtungen verständlich zu machen, wird unsere Welt weder friedlicher noch klimafreundlicher. Deshalb ist Lindenaus Pohlhof aus Kunstschule und Sammlung nach 175 Jahren aktueller denn je, auch wenn das ursprüngliche Gebäude längst nicht mehr steht. Das Lindenau-Museum ist jedoch an seine Stelle getreten, und wir alle sind auf die Realisierung der gegenwärtigen Projekte, die Umsetzung der Planung und zukünftige Ideen gespannt. Lindenaus Schöpfung und Stiftung ist ein Beitrag, der überall und immer spürbar wird und Begeisterung hervorruft, wenn man mit Kolleginnen und Kollegen in der ganzen Welt über das Lindenau-Museum spricht. Lindenau hat mit Kultur und Bildung an vielen Stellen seines Wirkens Ernst gemacht. Den Optimismus, den sein Erfolg über 175 Jahre generiert, den Weitblick und die Inspiration durch und an Bernhard August von Lindenau, wünsche ich Ihnen allen zu diesem großartigen Jubiläum. Er funktioniert!
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