Die Axt im Eismeer – Sergio Birga illustriert Franz Kafka

„Ich glaube, man sollte überhaupt nur solche Bücher lesen, die einen beißen und stechen. Wenn das Buch, das wir lesen, uns nicht mit einem Faustschlag auf den Schädel weckt, wozu lesen wir dann das Buch? […] ein Buch muß die Axt sein für das gefrorene Meer in uns.”
[Franz Kafka, aus einem Brief vom 27. Januar 1904 an Oskar Pollak]


Trotz seines eigentlich schmalen Werkes, das zudem in großen Teilen erst nach seinem Tod veröffentlich wurde, entfaltet der literarische Außenseiter Franz Kafka (1883–1924) eine enorme Wirkkraft, die er nicht zuletzt den behandelten überzeitlichen Motiven und inneren Konflikten verdankt. An der Deutungsoffenheit seiner Erzählungen und Romanfragmente haben sich Heerscharen an Literaturwissenschaftlern und -wissenschaftlerinnen sowie zahlreiche ratlose Leserinnen und Leser abgearbeitet, ohne in dieser „ungeheuren Welt“ eine alleinseligmachende Ordnung etablieren zu können – zum Glück!

Der Künstler Sergio Birga (1940–2021) war bereits als junger Mann von Kafkas Schrifttum fasziniert, in dessen Leben und Schaffen er Parallelen zu seinem eigenen Ringen um Anerkennung und der gnadenlosen Komplexität seiner Zeit fand. Als gebürtiger Florentiner, der ab dem Jahr 1965 bis zu seinem Tod in Paris lebte und sich für verschiedene Kunstströmungen begeisterte, war er zudem ebenfalls ein Grenzgänger zwischen verschiedenen kulturellen Traditionslinien.

Sergio Birga, Die Verwandlung (Das Erwachen), 1963, Holzschnitt, Privatsammlung Annie Birga, Paris, Foto: Lindenau-Museum Altenburg © VG Bild-Kunst, Bonn 2025.


Eine seiner frühesten Auseinandersetzungen mit Kafkas bildhafter Sprache bietet sein Holzschnitt zu Die Verwandlung. Schon dieser Auftakt der Erzählung ist auf fesselnde Weise rätselhaft und in der Verortung des Protagonisten präzise zugleich: „Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt.“ Die komprimierte Dichte vermittelt auch Birga, obwohl in Kafkas ganzem Text nie von einem Käfer gesprochen oder dessen mysteriöse Metamorphose erklärt wird. Ein beängstigendes Insekt drängt vom rechten Bildrand in den schmalen Raum wie eine alptraumhafte Vision. Das bürgerlich ausstaffierte Zimmer scheint keinen Halt geben zu können und torkelt schwankend aufgelöst in stilisierten Formen.

Ein beängstigendes Insekt drängt vom rechten Bildrand in den schmalen Raum wie eine alptraumhafte Vision. Das bürgerlich ausstaffierte Zimmer scheint keinen Halt geben zu können und torkelt schwankend aufgelöst in stilisierten Formen.

Kafka bat seinerzeit den Verleger Kurt Wolff (1887–1963) eine Illustration des Geschöpfes zu unterlassen, ein Umstand, der einige Diskussion um ein angebliches Bilderverbot auslöste.*

Ein Jahr später, im Jahre 1913, entstand die nur wenige Zeilen umfassende Prosaskizze Die Vorüberlaufenden Kafkas. Darin ziehen zwei sich verfolgende Gestalten am Erzähler und Leser in fast filmischer Qualität vorüber. Der Beobachter flüchtet sich in verschiedene Annahmen und Vorwände über die Motivation des Geschehens, um nur nicht eingreifen zu müssen und atmet erleichtert auf, als die Szene außer Sichtweise gerät - eine alltägliche Situation um die Frage der Verantwortung und Unterlassung, die jedem bekannt vorkommen mag und hier doch ins Surreale abgleitet.

Sergio Birga, Die Vorüberlaufenden (In der Nacht), 2014, Holzschnitt, Privatsammlung Annie Birga, Paris, Foto: Lindenau-Museum Altenburg © VG Bild-Kunst, Bonn 2025.


Birga verwendet bei seiner Umsetzung den grimassierenden Vollmond, ein häufiger bei ihm auftretendes Motiv, der hier sein blutrotes Licht über die Dächer der nächtlichen Straße ausgießt, an deren Ende er als fataler Schlusspunkt oder Ausrufezeichen aufgeht.

Birgas Grafiken sind ein individueller und produktiver Zugang zu Kafkas düster-traumhaften Erzählwelt, ganz im Sinne einer Briefpassage desselben, in welcher er darlegt: „Manches Buch wirkt wie ein Schlüssel zu fremden Sälen des eigenen Schlosses.“ [Franz Kafka in einem Brief an Oskar Pollak 9. November 1903]. Die Grafiken Sergio Birgas fanden posthum Eingang in das Album Kafka (2022) der renommierten Klassikerausgabe Bibliothèque de la Pléiade der Éditions Gallimard.

Wer die Textpassagen zu diesem und anderen Werken auffrischen mag, kann sich HIER einen akustischen Eindruck verschaffen und sich in die Erzählwelt Kafkas (gelesen von Thomas C. Zinke) hineinhören.

 

* Zu Kafka und seinem Verhältnis zur Bildenden Kunst kann man im Ausstellungskatalog ein vertiefendes Essay von Dr. Friedirch Schmidt studieren.

Text von Vincent Rudolf


Die Ausstellung „Sterne über Paris – Sergio Birga und die Moderne“ ist vom 20. Mai bis zum 10. August 2025 im Lindenau-Museum im Prinzenpalais des Residenzschlosses Altenburg zu sehen.

 

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