Dieter Appelt – Die Kunst des bedingungslosen Seins
Was soll man von einem halten, der seinen nackten Körper kopfüber mit den Füßen an einen Feigenbaum aufhängte, um einen neuen Bewusstseinszustand zu erfahren? Der sich Tierschädel um den nackten Bauch band oder in Anlehnung an Petrus ein Moor überschreiten wollte, ohne dabei zu versinken? Und der herausfinden wollte, wie die Wälder klingen, wenn man das Auf- und Absteigen der Baumkronen als Partitur liest?
Man könnte sagen, er ist eben ein Künstler und macht verrückte Sachen. Doch damit wird man Dieter Appelt (geb. 1935) und seinem hochpoetischen Werk nicht gerecht. Appelt, der in der Nähe von Bitterfeld aufwuchs und als Kind mit dem Zweiten Weltkrieg und dessen Folgen konfrontiert war, brachte sich den Umgang mit der Kamera selbst bei und studierte ab 1954 Operngesang in Leipzig. Kurz vor Mauerbau verließ er die DDR und setzte sein Studium in West-Berlin fort. Parallel dazu begann er ein Kunststudium und intensivierte bei seinem Lehrer Heinz Hajek-Halke (1898–1983) seine Kenntnisse im Umgang mit der Kamera.
Bei Reisen nach Norditalien erlebte der Einzelgänger Appelt ab 1976 seinen künstlerischen Durchbruch und fand in der Kombination von Aktion und poetischer Schwarz-Weiß-Fotografie seinen die kommenden Jahre bestimmenden Stil. Appelts künstlerisches Mittel ist sein eigener, meist nackter Körper. Bis auf wenige Ausnahmen fanden seine Inszenierungen nicht vor Publikum statt, sondern in abgelegenen Gegenden fernab der Zivilisation, mitten in der Natur.

Die Natur ist bei Appelts Aktionen nicht lediglich Hintergrund, sondern selbst Akteur, sie ist in ihm und er in ihr. Im Grunde ging es Appelt um eine Wiederversöhnung von Körper, Geist und Natur: Er interessierte sich für die Symbolik und die Rituale früherer Kulturen, die noch im Einklang mit der Natur lebten, und entwickelte daraus sein Vokabular, ruhend auf dem Wurzelgrund einer magisch-mythischen Symbolsprache. Nicht selten erreichen seine Bilder so eine spirituelle Ebene.
Mit diesen Fotografien voller Sinnlichkeit und geistiger Tiefe wurde Appelt in Europa und den USA bekannt. Die Universität der Künste richtete ihm eine Professur für Fotografie ein und die Akademie der Künste nahm ihn in ihren Reihen auf. Appelts Werke wurden in den 1980er und 1990er Jahren experimenteller, er reizte die künstlerischen Möglichkeiten der analogen Fotografie voll aus. Die Aktionskunst trat dabei etwas in den Hintergrund.
Heute hat Appelt seine Kameraausrüstung längst verkauft. Statt der Fotografien entstehen Zeichnungen, die eine starke Musikalität aufweisen und von Appelt als Partituren bezeichnet werden. Wer die feinen Linien und Gewebe der filigranen Blätter betrachtet und dazu auch noch die feingliedrigen Skulpturen, der wird vielleicht auf die wimmelnde Lebendigkeit in den Stoffen und die geheimnisvollen Informationen der Steine, des Holzes oder der Erde aufmerksam gemacht. Und damit schließen die Zeichnungen an die Aktionen an, in denen die Kunst Appelts ihren Ausgangspunkt nahm. Und wir verstehen Appelts Kunst als ein Manifest des Geistes und des bedingungslosen Seins.

In unseren hochgradig fremdversorgten Gesellschaften haben wir vergessen, dass alles Leben Voraussetzungen hat, die nicht künstlich sind. Appelts Bilder schaffen ein Bewusstsein dafür, dass mit technischen Lösungen allein das Überleben auf unserem Planeten nicht gesichert werden kann. Im Zeitalter Künstlicher Intelligenz muss daran erinnert werden, dass wir Menschen eingebettet sind in einen großen Stoffwechsel, eingewoben in natürliche und kosmische Zusammenhänge und verwandt mit Steinen, Wasser und Böden. Die Wurzeln der Pflanzen sind auch unsere Wurzeln.
Wasser, Erde und Holz sind Elemente, die Appelt immer wieder thematisiert und mit denen er arbeitet. Für seine Aktionen nutzte er fast ausschließlich gefundene Naturalien wie Hölzer und Gräser, umwickelte seine Gliedmaßen mit Leinen und rieb sich mit Marmorstaub und Öl ein. Die Verwandtschaft zu Joseph Beuys (1921–1986), der den Naturmaterialien wie Filz, Fett, Honig oder Gold gleichfalls größte Bedeutung beimaß, wird nicht nur an dieser Stelle deutlich. Appelt sieht sich als Schüler von Beuys, doch, so sagt er, hatte Beuys eine politische Agenda, eine gesellschaftliche Utopie, er habe keine.
Nein, ausdrücklich politisch ist Appelts Werk wirklich nicht. Es berührt auf einer anderen Ebene, die Bewusstsein stiften kann für die großen Zusammenhänge von Mensch, Geist und Natur. Appelts wichtigste Werke entstanden ab den 1970er Jahren vor dem Hintergrund der atomaren Bedrohung und dem Verständnis von der Endlichkeit natürlicher Ressourcen. Der Philosoph und Psychologe Erich Fromm (1900–1980) schrieb von den Prinzipien Haben oder Sein, die unser Leben bestimmen. Haben bedeutet Konsum, Besitz, wirtschaftliches Wachstum, Festhalten und Herrschaft. Sein heißt hingegen Loslassen, Hingabe und Leben. Und Appelt erscheint als der Künstler des bedingungslosen Seins, und gerade deshalb sprechen seine Bilder noch heute so stark zu uns.
Text von Dr. Benjamin Rux
Die Ausstellung „Dieter Appelt – Gerhard-Altenbourg-Preis 2025" ist vom 26. August bis zum 2. November 2025 im Prinzenpalais des Residenzschlosses Altenburg zu sehen.
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