Gerhard Altenbourg – der Nachtwanderer

Gerhard Altenbourg (1926–1989) wäre am 22. November dieses Jahres 98 Jahre alt geworden. Der in Rödichen-Schnepfenthal geborene Zeichner, Lithograf und Dichter Gerhard Ströch, der sich selbst den ortsverbundenen Künstlernamen Altenbourg gab, verbrachte den größten Teil seines Lebens in Altenburg. Seine Schwester Anneliese Ströch hatte einige Jahre nach dessen Unfalltod die Stiftung Gerhard Altenbourg gegründet, welche nach ihrem Tod die Verwaltung und Betreuung des Nachlasses übernahm.

Altenbourg ist einer der bedeutendsten deutschen Zeichner und Grafiker des 20. Jahrhunderts. Er war ein poetischer Künstler, der für seine Landschaften, Kopfbilder wie auch für groteske Zeichnungen und phantastische Figurationen bekannt wurde. Ihm wird eine Verwandtschaft mit abstrakten Künstlern wie Paul Klee oder Julius Bissier nachgesagt, jedoch zeigt sein Werk durchaus auch Gegenständliches, Figurales, häufig begleitet von kunstvollen, manchmal ironisch-dadaistisch wirkenden Titeln. Aufgrund seiner Vielseitigkeit, seiner präzisen, äußerst minutiösen Zeichen- und Drucktechniken und der Verwendung von höchst qualitätsvollen Materialien gelang ihm eine eigenständige Auseinandersetzung mit der Gegenwart.

Das Gesicht der Dämmerung, 1965, Lithografie in Schwarz auf Karton, Stiftung Gerhard Altenbourg, © Stiftung Gerhard Altenbourg, Altenburg

Altenbourgs künstlerisches Schaffen ist geprägt von seiner intensiven Auseinandersetzung mit der Natur und der Nacht. Bereits zahlreiche Titel seiner Werke lassen darauf schließen und auch sogenannte Schriftblätter mit Notizen und Skizzen sowie Gedichte Altenbourgs zeigen wie sehr Altenbourg sich mit der Nacht auseinandergesetzt hat: „Klar mit dem Nächtlichen verschwistert“ lautet etwa der Titel einer Zeichnung von 1949, die er 1971 im Künstlerbuch „Ich-Gestein“ abdrucken ließ (Ullstein/Propyläen Verlag). Seine druckgrafischen und zeichnerischen Werke zeugen von seiner Faszination für das Unbekannte und Geheimnisvolle, und bieten uns Betrachterinnen und Betrachtern die Möglichkeit, sich in eine Welt jenseits des Alltäglichen zu begeben.

Flocken, Minuten: Aufdämmern der Nacht, 1970, Mehrfarbenholzschnitt in Rot, Grün und Blau auf rauem Büttenpapier, Stiftung Gerhard Altenbourg, © Stiftung Gerhard Altenbourg, Altenburg

Über Galeristen im „Westen“ (Galerie Springer, Galerie Brusberg) zog er auf der anderen Seite der Mauer großes Interesse auf sich und verkaufte bereits früh zahlreiche Grafiken. Damit verstieß er gegen die strengen kunstpolitischen Regeln der DDR und wurde 1964 zu sechs Monaten Haft auf Bewährung verurteilt. Bis in die 80er-Jahre hinein wurde er blockiert, etwa durch Verbote und das Schließen von Ausstellungen. In seinem Haus in Altenburg wurde er insgesamt neun Mal „überprüft“. Er wurde verdächtigt, mit seiner ebenfalls im Elternhaus lebenden Schwester zu viel Wohnraum zu beanspruchen. Altenbourg versuchte die Raumnutzung als Künstlerhaus mit entsprechenden Arbeits-, Lager-, und Bibliotheksräumen zu begründen.

Letztlich scheint es ihm gelungen zu sein, diesen existenziellen Raum für sich zu behaupten. Zeitgleich hatte er längst begonnen, Innenräume wie auch Außenwände und Gartentore künstlerisch umzugestalten. Auch den Garten wandelte er von einem Nutz- zu einem ostasiatisch anmutenden Zier- und Steingarten um, in welchen er sogar einen ursprünglich aus China stammenden Urwelt-Mammutbaum (ein lebendes Fossil) pflanzte. Der Druck auf den Künstler wurde zu einer psychischen Belastung. Um sich „auszubalancieren machte Altenbourg seine langen Wanderungen“, schrieb sein Nachbar und Freund Frank Grimm 1997, denn – so hielt es Altenbourg selbst einmal fest – „im Laufen verblasst die Zeit“ und damit auch das Zeitgeschehen.

Gerhard Altenbourg barfuß im Wald, vermutlich 2. Hälfte 1950er Jahre © Stiftung Gerhard Altenbourg, Altenburg, Fotograf/in unbekannt

Aus seinem Garten konnte er sich unbemerkt durch ein kleines Tor (zur Spinnbahn) auf den Weg machen. Frank Grimm formulierte es passender: „Er verließ seinen Garten durch eine Hintertüre, ging schmale Wege durch Bewachsenes ins Offene, er hoffte, von niemandem nach dem Namen gefragt zu werden. In der Nacht erinnert die Natur sich ihres Ursprungs, dem wollte er folgen mit dem Schläfenauge, wie er es nannte. Einmal verfolgte ihn die Polizei im Walde, man vermutete einen Sender in seiner Tasche. Beim Zeus! immer wieder brauchte er die Anstrengung des Vergessens… in der Dämmerung fand er zurück zum Gnaden-Eingang.“ Wenn wir also heute formulieren, Altenbourg habe sich während seiner Wanderungen von der Dunkelheit und Stille der Nacht inspirieren lassen, dann stimmt das offenbar nur teilweise. Der Autor und Filmemacher Jens-Fietje Dwars stellte demgegenüber heraus, dass man das künstlerische Schaffen nicht allein mit der Isolation des Malers im ideologisch normierten Kunstbetrieb der DDR begründen könne. Vielmehr ließe sich Altenbourgs Poesie auf einen Tiefengrund traumatischer Erfahrungen während des Kriegsdienstes und seiner Kindheit zurückführen.

In einem Interview mit dem katholischen Theologen, Priester und Kunstverständigen Friedhelm Mennekes erläuterte Gerhard Altenbourg 1987 selbst freilich: „Ich gehe viel spazieren, aber ich gehe immer den gleichen Weg. Und ich gehe ihn vorwiegend nachts, weil dann das Tageslicht erloschen ist und einem die Gegenstände mit ihrer permanenten Plastizität nicht so auf den Leib rücken. Sie werden zeichnerisch. Man kann sich gar nicht vorstellen, daß keine Nacht einer anderen gleich ist. Das ist eines der größten Geheimnisse. Kein Abendhimmel und kein Nachthimmel ist gleich einem anderen, wie kein Blatt einem anderen gleich ist. Das hat mich immer fasziniert. Da ist man einem Schlüssel des Schöpferischen sehr nahe. Unsere Welt, die alles so mechanisch macht, ist uns deswegen so fremd.“ (zit. nach Mennekes 1987, S. 240)

 

Literaturhinweise
Grimm 1997: Frank Grimm: Die Fährte. Altenbourgs Kunst der Erinnerung. In: Lindenau-Museum Altenburg. Altenbourg nach Altenburg. Die Gerhard-Altenbourg-Sammlung von Gisela und Hans-Peter Schulz, Leipzig. Hrsg. von der Kulturstiftung der Länder Berlin in Verbindung mit dem Lindenau-Museum Altenburg (Patrimonia 131). Leipzig 1997, S. 23–26,
Mennekes 1987: Friedhelm Mennekes: Gerhard Altenbourg - Im Gespräch [Interview und]. Im Werk. In: Abstraktion - Kontemplation: Auseinandersetzung mit einem Thema der Gegenwartskunst. Hrsg. v. Franz Joseph van der Grinten und Friedhelm Mennekes. Stuttgart: Verlag Katholisches Bibelwerk, 1987, S. 233–250.

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