"Liebe in Zeiten des Hasses" – Familie und Freunde im Werk des Künstlers Conrad Felixmüller (Part II/III)

Es ist das Jahr 1927: Georges Lemaître (1894-1966) präsentiert seine These vom Beginn des Universums, die später als Urknall bezeichnet wird. Charles Lindbergh (1902-1974) fliegt non-stop von New York nach Paris. Es gibt eine Totale Sonnenfinsternis in Nord-Europa. Der Dirigent Kurt Masur (1927-2015) sowie der Schriftsteller, Maler, Bildhauer und Literatur-Nobelpreisträger Günter Grass (1927-2015) werden geboren, der spanische Maler des Kubismus Juan Gris (1887-1927) sowie der Autor und Biograf Hugo Ball (1886-1927) sterben. Im Ufa-Palast am Berliner Zoo findet die Premiere von Fritz Langs dystopischem Sciencefiction Drama Metropolis statt. Schauplatz ist eine futuristische Großstadt mit einer ausgeprägten Zwei-Klassengesellschaft. Ein Jahr später wird die Arbeitslosenrate um knapp eine halbe Million auf 1.862.000 steigen.

Conrad Felixmüller, Der Dichter Walter Rheiner liest im Atelier, 1927, Lindenau-Museum Altenburg © VG Bild-Kunst, Bonn 2023

Die Grafik "Der Dichter Walter Rheiner liest im Atelier" zeigt Felixmüllers geliebten Freund bei einer Zusammenkunft im Atelier des Künstlers. Felixmüller selbst wendet sich Rheiner zu, er hält Feder oder Pinsel und Skizzenbuch in seinen Händen – Utensilien, die ihn als Künstler auszeichnen. Am unteren linken Bildrand dreht sich eine rauchende Frau den Betrachtenden oder weiteren Anwesenden im Raum zu. Das Fenster im Atelier ist schräg geneigt, dahinter hängt der Mond am Himmel, es ist Nacht in der Großstadt. Felixmüller trifft Rheiner das erste Mal im Jahr 1916 in einer kleinen Buchhandlung in Dresden, Rheiner ist zu diesem Zeitpunkt kaufmännischer Angestellter in Leipzig. Der Verkäufer im Laden ist Felix Stiemer (1896-1945). Von dieser Begegnung an verband die drei eine enge Freundschaft. Was Rheiner als Dichter schrieb, illustrierte Felixmüller, Stiemer druckte und publizierte es. Gemeinsam gründeten sie die Zeitschrift "Menschen".

„Mitten im Krieg, in Not, Kälte, Hunger. Wir waren ergriffen von allem, was um uns war. Zutiefst erschüttert litten wir mit den Menschen um uns. Wovon wir lebten, wie wir uns wärmten, ich weiß es heute nicht mehr. Das Atelier war, ungeheizt, der Treffpunkt vieler, immer mehr Gleichgesinnter.“   – Conrad Felixmüller

Zu zweit fuhren Rheiner und Felixmüller im kalten Winter 1917 nach Berlin, um finanzielle Unterstützung für ihre Geschäftsideen zu bekommen, erfolglos kamen sie zurück nach Dresden und schlossen einen Vertrag mit einer Dresdner Kunsthandlung. In Felixmüllers Atelier fanden die expressionistischen Soiréen statt:

„Walter Rheiner las im dichtgedrängten Besucherkreis vor, was seine Feder schrieb: fast weinende Gesänge, empathisch die Hymnen an die Nacht, an Frauen, Lieder, Gebete; an den Frieden, Sternenhimmel – seine Hoffnung auf einen neuen Tag – in Liebe zu Menschen unter Menschen. […].“   – Conrad Felixmüller

Mitten in der Inflation, die Arbeitslosigkeit und Armut zur Folge hatte, zerstoben Freunde und Kameraden. Felixmüller lebte mit seiner Familie weitab in einem Vorort von Dresden. Walter Rheiner, den es in einen Berliner Vorort verschlagen hatte, fand keinen Verlag, keine Arbeit, blieb erfolglos und zog sich in seiner Not von allen Freunden zurück. In einem Berliner Absteigequartier, verlassen und einsam, mit Flasche und Spritze in den Händen, brach er zusammen und starb am 12. Juni 1925 an einer Überdosis Morphium. Noch im selben Jahr widmete Felixmüller seinem Freund das Gemälde "Der Tod des Walter Rheiner", das sich künstlerisch von vorherigen Porträts deutlich abhob. Es gleicht einem Kaleidoskop voller Details, Farben und einem leuchtenden Hintergrund aus Häusern, Licht und dem Himmel mit Wolken. Die Betrachtenden sehen die Szene aus dem Raum, in dem auch der Maler zu stehen scheint. An den Seiten befinden sich schwere grüne Vorhänge sowie Pflanzen im unteren Bildrand, die auf einem Fensterbrett stehen könnten. In der Mitte des Bildes schwebt Walter Rheiner im schwarzen Anzug. Mit der rechten Hand scheint er nach den Sternen zu greifen, in der anderen hält er die tödliche Spritze, die ihn auf seinem letzten Weg in den Himmel begleitet. Die friedlichen Gesichtszüge Rheiners sind in ein warmes Licht getaucht.

Noch ehe die Öffentlichkeit Notiz von einem Künstler nimmt, stehen wie Schutzengel gegen Not und Mutlosigkeit die Freunde neben ihm. Die heftigsten Verzückungen des Schaffens überstürzen auch sie, und oft genug teilen sie ihre meist knappen Mittel, um dem Schaffenden den Magen zu stopfen oder die Materialien zu bezahlen.

„Was wären wir Künstler alle ohne unsere Freunde im Anfang und in der Not.“   – Conrad Felixmüller

(Part II/III)

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