Unvergessen – zu einem Gedächtnisbild Ernst Müller-Gräfes

Kein Wesen kann zu Nichts zerfallen!
Das Ew'ge regt sich fort in allen,
Johann Wolfgang von Goethe, Vermächtnis, 1829

Ein Vermächtnis kann die Erinnerung an einen Menschen ebenso wie das Œuvre eines bildenden Künstlers umfassen, manchmal kreuzen sich darin wie in diesem Fall sogar verschiedene Lebenswege. Uns als Museum kommt dabei die besondere Verpflichtung zu, dieses Erbe zu pflegen, zu bewahren und die damit verwobenen Geschichten zu erzählen: diese beginnt an dieser Stelle mit der langjährigen Freundschaft zwischen dem Altenburger Maler und Grafiker Ernst Müller-Gräfe (1879–1954) und dem Grünhainer Pfarrer Karl Josef Friedrich (1888–1965). Rückblickend schrieb Letzterer in seinen Memoiren über ihre erste Begegnung in Chemnitz zu Pfingsten 1910: „In dem schönen Museumspalast, genannt „Kunsthütte“, erlebte ich eine Ausstellung des Malers Ernst Müller-Gräfe aus Dresden. […] Wir schloßen Freundschaft, und er schloß mich in sein Herz. Ernst Müller-Gräfe ist mein großer Malerfreund gewesen bis zu seinem Tode.“

Geboren in Dresden, hatte Friedrich ein Theologiestudium in Marburg, Tübingen und Leipzig absolviert und war schließlich ab 1915 Pfarrer in Grünhain, wo er ein Jahr später auch heiratete. Äußerst kunstaffin vermittelte er Ernst Müller-Gräfe nicht nur zahlreiche Aufträge und verfasste flammende Rezensionen über sein Schaffen, sondern gab bei ihm auch Porträts und Illustrationen in Auftrag, unter anderem für die zweite Auflage seines Buches „Volksfreund Gregory (Gotha 1920). Verbunden zeigte sich Karl Josef Friedrich aber auch der Künstlergruppe Chemnitz, insbesondere Georg Gelbke. So konnte dieser die Emporen der kleine Kirche Schönborn bei Dresden gestalten. Sein „Kunstzimmer“ füllte sich rasch mit Künstlerselbstbildnissen, Grafiken der von ihm sehr geschätzten Käthe Kollwitz und Christusdarstellungen. Unter seinen zahlreichen Publikationen, die ihm den Namen „Dichterpfarrer“ eintrugen, finden sich auch Künstlermonographien zu Ludwig Richter.

Der in Nobitz bei Altenburg geborene Ernst Müller-Gräfe hingegen hatte noch während seiner Ausbildung an der Dresdener Akademie mit den Fresken im Treppenhaus des Lindenau-Museums einen bedeutenden Auftrag erhalten, denn er erst nach vielen Änderungen 1922 abschließen konnte. Es folgten zahlreiche Folgeaufträge für monumentale Wanddekorationen, unter anderem in Zwickau und der Annaberger St. Annenkirche. Den Toten des Ersten Weltkrieges gewidmet, bewegen sich die acht in Öl auf Leinwand gemalten Gemälde dort thematisch zwischen Kreuzigung und Auferstehung, Trauer, Krankenpflege und Tröstung. Während ihrer Entstehung wird das Familienidylle Pfarrer Friedrich durch den plötzlichen Tod seiner ersten Frau Elfriede am 5. Juli 1924 erschüttert. Zwei Monate nach ihrem Hinscheiden gab er ein Heft mit dem Titel „Die Pfarrfrau von Grünhain“ als Dankesgabe heraus, welches auch zwei Arbeiten Müller-Gräfes als Abbildungen enthält. Im Jahr 1929 folgt mit der Publikation „Magd und Königin“ ein Lebensbild der „frühvollendeten Pfarrfrau.“

Nach diesem schmerzhaften Verlust setzte der Witwer der Verstorbenen aber nicht nur literarisch ein Denkmal, sondern wollte ihr zu Ehren auch ein Andenken künstlerischer Art schaffen. Rasch wurde er mit seinem Freund Müller-Gräfe über den Auftrag einig: ausgemacht wurden bei einer Laufzeit von einem Jahr zunächst hundert Mark monatlich sowie eine malerische Ausführung in Zimmergröße. Dem Bild gingen zahllose Studien voraus. Über den Werdegang der Arbeit, die nicht ohne Verwerfungen und Konflikte vonstattenging, informiert uns der im Landesarchiv Thüringen - Staatsarchiv Altenburg aufbewahrte Briefwechsel ausführlich. Am 15.09.1925 notierte Ernst Müller-Gräfe beispielsweise euphorisch: „Lieber Freund, […] heute habe ich den großen Entwurf begonnen, gestern aus alten Holzleisten, die sich noch von den Museumsarbeiten her hatte, die Rahmen zusammen genagelt, auf die das Papier nun gespannt ist und heute bereits alle Gestalten aufgezeichnet.“

Der Entstehungsprozess zog sich durch viele Änderungen in die Länge, schließlich kostete das Werk stolze 4000 Mark und war deutlich zu groß für eine würdige Aufstellung in der vorgesehen Kirche geraten. Müller-Gräfe nutzte derweil einzelne Motive für die separat erschienene druckgraphische Mappe „Glaube – Liebe – Hoffen“.

Ernst Müller-Gräfe, Mappenwerk „Glaube – Lieben – Hoffen", Schwarzenberg 1925, Schloss- und Spielkartenmuseum Altenburg, Inv.-Nr. V 5028, Foto: Vincent Rudolf

Das Programm des Gedächtnisbildes mit der aus dem Sarg zu Christus auffahrenden Seele ist relativ einfach und klar umrissen, so liest man im Zwickauer Anzeiger vom 11. September 1927: „Das Hauptbild der Ausstellung ist das große Gedächtnisbild "Tod und Verklärung", […]. Der Künstler gibt eine symbolische Darstellung des vollendeten, sich verklärenden Lebens, rechts und links zwei Gruppen, die Mutterliebe und die barmherzige Liebe.“ Die Idee, durch Leiden zur Erlösung zu finden, durchzieht bereits die Ikonographie der Annaberger Gedächtniskapelle. Mit vereinfachten, gesteigerten Formen in satten, kraftvollen Farben, die in Grün ätherisch glimmen oder grelleuchtend und schweflig-fahl aufflackern wird das Konzept vom Aufstieg aus dem Dunkel des Grabes hin zum überirdischen Licht umgesetzt. Ergänzt wird das fast fünf Meter hohe Werk um biblische Beischriften.

Gerade für das individuelle Erleben von Verlust und Trauer bot sich ein Rückgriff auf die subjektive Erfahrungswelt des Expressionismus an, wie Ernst Müller-Gräfe ihn hier zur Anwendung brachte. Auch die hier zu beobachtende formale und gedankliche Anlehnung an die Bildersprache und Mystik der Spätgotik war nach dem Ersten Weltkrieges weit verbreitet.

Nach einem Intermezzo im Zwickauer König-Albert-Museum, gastierte der Altar ab Oktober 1927 im Lindenau-Museum Altenburg. Erst zwei Jahre nach der Versetzung Pfarrer Friedrichs nach Seifersdorf, im August 1929, wurde der Altar dort in der Kirche aufgebaut, allerdings wurde mehrfach nach einem alternativen Aufstellungsort Ausschau gehalten. Noch im Jahr der Machtübernahme 1933 erhielt Friedrich unter Androhung einer Beteiligung der SA „mit rauer Hand“ die Aufforderung, das Bild aus der Kirche zu entfernen. Nach dessen Abbau wurde im März 1934 eine Ausleihe an das Lindenau-Museum in Altenburg möglich, vermutlich nicht zuletzt durch Müller-Gräfes gute Kontakte zum neuen Direktor Heinrich Mock. Aber auch hier war ihm keine dauerhafte Bleibe beschieden, denn im Rahmen der NS-Beschlagnahmungsaktion „Entartete Kunst“ wurde das Kunstwerk 1937 abgebaut und erst nach vehementem Protest des Auftraggebers an diesen zurückgegeben. Im Zuge dessen gingen wohl die Zierrahmen und die Enden der Sockelzone verloren. Zunächst in verkleinerten Zustand aufgehangen, dann eingelagert, schenkte die Enkelin Pfarrer Friedrichs im November 2023 das Werk großzügig dem Lindenau-Museum, wobei es zuvor noch von Lucas Marz im Rahmen einer Diplomarbeit an der Hochschule für Bildende Künste Dresden intensiv untersucht und gesichert wurde.

Der Altar Ernst Müller-Gräfes präsentiert im Rahmen eines Vortrags am 13. März 2025 im Interim des Lindenau-Museums, Foto: Steven Ritter

Abschließend soll hier noch einmal Pfarrer Friedrich aus seiner „Freundesgabe“ für den Maler Hans Thoma aus dem Jahr 1919 zu Wort kommen: „Bilder sind entfaltete Seele, geformtes Herz. Aus den Bildern strömt uns der Künstler Tiefe und Kraft, Traum und Tapferkeit zu. Wir nähren uns von ihrer Seele, wenn wir ihre Bilder sehen und uns an ihnen erfreuen.“

 

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