Zum Geburtstag von Gerhard Altenbourg: Die „Schnepfenthaler Suite“

Gerhard Altenbourg (1926 –1989) wäre am 22. November dieses Jahres 96 Jahre alt geworden. Der in Schnepfenthal geborene Zeichner, Lithograf und Dichter Gerhard Ströch, der sich selbst den ortsverbundenen Künstlernamen Altenbourg gab, verbrachte den größten Teil seines Lebens in seinem Haus am Braugartenweg in Altenburg. Seine Schwester Anneliese Ströch gründete 2002 die Stiftung Gerhard Altenbourg, die nach deren Tod die Verwaltung und Betreuung des Nachlasses übernahm. Die Stiftung Gerhard Altenbourg und das Lindenau-Museum sind eng miteinander verbunden.

Gerhard Altenbourg: Schnepfenthaler Suite, Blatt 6, Stiftung Gerhard Altenbourg © VG Bild-Kunst, Bonn 2022

„Ich sitze an der Spinnbahn“ (Gerhard Altenbourg)

Schnepfenthal, der Geburtsort des Künstlers Gerhard Altenbourg, hätte schon eine Wortfindung von ihm selbst sein können. Schnepfenthal und Rödichen sind aber bereits als Rodungssiedlungen 1186 als „Snephindal“ und 1295 als „Rode“ zum ersten Mal urkundlich erwähnt worden. Rödichen liegt im einstigen Waldgebiet, das dem heutigen Thüringer Wald vorgelagert war. Altenbourgs zeichnerisches und druckgrafisches Werk ist eng verflochten mit den urtypischen Landschaften, den Wäldern, Tälern und Hügeln Thüringens. Für ihn waren aber nicht nur seine Herkunft und die charakteristischen Orte wichtig, ihm ging es auch um „Benennungen, Bannungen und Heimsuchungen, um Verbergen und Beschwören“, um uralte, mythologische Bezüge, wie auch um die Spuren des Lebens (und des Sterbens), die in der Landschaft erkennbar bleiben.

Im künstlerischen Nachlass der Stiftung hat sich Altenbourgs Arbeitsexemplar einer Druckserie erhalten, in welchem Altenbourg erstmals Kaltnadelradierungen ausgearbeitet hat, die nach dem Schnepfenthal benannt wurden: Die „Schnepfenthaler Suite“, bestehend aus 100 Einzelblättern mit Kaltnadelradierungen. Zwei weitere Exemplare besitzt das Lindenau-Museum Altenburg. Insgesamt betrug die Auflage nur vierzehn nummerierte, signierte und bezeichnete Exemplare – zwölf davon waren für den Handel, die beiden anderen für den Künstler und seinen Drucker bestimmt.

Die „Suite“ ist Altenbourgs umfangreichste und eindringlichste Arbeit. „Er liebt und beherrscht die klare Linie wie das Netz feinster Geflechte der Zeichnung“ (Dieter Brusberg, 1989). Aus den 100 Blättern wurde ein großangelegtes erotisch-anzügliches und zugleich ironisches Welttheater en miniature, ein scheinbar heiteres und heikles Spiel der Liebe, der großen Gefühle im intimen Format. Altenbourg selbst gab in der von Dieter Brusberg herausgegebenen Edition den Hinweis auf den „berühmten Schnepfenstrich“, die Schnepfenjagd und „das Hin- und Herziehen der Schnepfen, das Löffeln=gehen! Na ja: Löffeln: der sinnlichen liebe nachgehen, karessieren, bei Mädchen und Weibern löffeln. Und: Löffler gleich Liebesläufer, Karessant […].“ Ähnlich den Idyllen des 18. Jahrhunderts diente es einerseits der Betrachtung von Szenen aus der Vorstellungswelt des Künstlers und andererseits der Begegnung mit Gerhard Altenbourg selbst, dessen schelmenhaftes Wesen beim Durchblättern und Betrachten der Suite immer wieder zu erkennen ist.

Ohne den Künstler und Drucker Thomas Ranft gäbe es die „Suite“ vermutlich nicht. In den 1970er-Jahren hatte Ranft erste Einblicke in das Atelier und das Schaffen von Gerhard Altenbourg gewonnen, als er noch an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig studierte. Altenbourg und Ranft eint das Nachdenken über die Welt, die Natur und den Umgang mit ihr. Altenbourg war (wie Ranft) ein leidenschaftlicher Gärtner, was in Altenbourgs heute allerdings etwas überwucherten Garten am Braugartenweg nachvollziehbar bleibt. Die mannigfaltigen Gebilde und Einfälle der Flora und das Herumstreifen in der Natur fließen in ihren künstlerischen Auseinandersetzungen homogen ein.

Gerhard Altenbourg: Schnepfenthaler Suite, Blatt 13, Stiftung Gerhard Altenbourg © VG Bild-Kunst, Bonn 2022

„Gerhard Altenbourg zerfaserte, um zusammenzufügen.“

Thomas Ranft war aufgefallen, dass neben allen grafischen Ausdrucksmöglichkeiten Altenbourgs Zeichnung, Aquarell, Mischtechniken, Lithografie und Holzschnitt die Radierung fehlte, denn Altenbourgs bevorzugte Holzschnitt und Lithografie. Nachdem Ranft an Gerhard Altenbourg eine Radierplatte und das nötige Werkzeug geschickt hatte, unternahm dieser erste Versuche, zu einem „lebendigen Strich“ und einer „kupfernen Erzählung“. Er entwickelt hauchfeinste, leichte Nadelstriche – trotz des Widerstands, den die Hand bei der Kaltnadelradierung überwinden muss. Eine frohgemute, beschwingte Sinnlichkeit lächelt aus diesen Bildern – eine unendliche Seelenfreiheit und Herzenslust.

Nach und nach fand Altenbourg mehr Gefallen an der Radierung, benötigte weitere Platten und skizzierte den Plan zur „Suite Berlin“, die später zur „Schnepfenthaler Suite“ wurde. Er druckte sie jedoch nicht selbst, sondern beauftragte Thomas Ranft damit, woraufhin eine intensive, langjährige Zusammenarbeit beider Künstler entstand. Über vier Jahre hin trafen sie sich und arbeiteten abwechselnd in Altenburg und Karl-Marx-Stadt (heute Chemnitz), fertigten schließlich noch die zehn Kaltnadelradierungen „Aus dem Hügelgau“ an (bis 1989). Sie sprachen über Techniken, Mischung der Farben, Druckstärke der Linien, Plattenton und Papierqualitäten (die auch in der Suite variieren). Alle Blätter der Suite, die in einer limitierten Auflage von 14 Exemplaren gedruckt wurden, haben eine gebrochene Farbgebung in Schwarz, Sepia, Terrakotta, Bister, Magenta, Zinnober, Ocker, Orientblau, Dunkelgelb und Weiß. Insgesamt wurden 122 Platten bearbeitet, da noch die Suite „Aus dem Hügelgau“ hinzukam.

Altenbourg war besonders die Schärfe der Linie wichtig, die bei jedem Abzug die gleiche Qualität erreichen sollte. Dafür arbeitete er auf beschichteten und besonders harten Zinkplatten, wodurch jede Linie sehr klar hervortrat und gut sichtbar wurde. Manchmal benutzte er sogar Scheren, Messer und andere scharfe Gegenstände oder bezog selbst Fehler auf der Platte mit in seine Arbeit ein.

Gerhard Altenbourg, Schnepfenthaler Suite, Blatt 22, Stiftung Gerhard Altenbourg © VG Bild-Kunst, Bonn 2022

„klein aber kostbar, voll heiterer Wehmut, schmerzender Schönheit und lächelnder Trauer. Ein ironisch gezeichneter Garten der Lüste, ein irdisches Paradies der Liebe. Altenbourgs Himmel und Hölle. Abschluß und Anfang.“ (Dieter Brusberg, 1989)

Sicher war Gerhard Altenbourg erfüllt von vielen Ideen und Projekten, die er gerne noch verwirklichen wollte – zumal sich 1989 der „Eiserne Vorhang“ endlich hob. Leider wurde er kurz vor Jahresende sehr plötzlich durch einen Autounfall aus dem Leben und aus seiner Arbeit gerissen. Er bleibt uns in seinen Werken erhalten.

Am 27. Oktober 2022 war Thomas Ranft im Lindenau-Museum zum Treffen der Gerhard Altenbourg Gesellschaft eingeladen, um die Originale zu sehen und über die Suite zu sprechen. Bei dieser Gelegenheit überreichte er dem Museum eine Radierplatte Altenbourgs und eines seiner Kunstwerke. Hierfür sei ihm herzlich gedankt.

Gerhard Altenbourg: Schnepfenthaler Suite, Blatt 47, Stiftung Gerhard Altenbourg © VG Bild-Kunst, Bonn 2022

Einige Blätter der Suite lassen direkt auf das Vogelgeflatter des Schnepfenthals schließen. So etwa Blatt 6 mit dem Titel „Piepe, mein Vogel, piepe: die Zügel, ja die Zügel“ oder Blatt 13 mit „Wieviele kleine Kosmoi: Lusthuber / Greif=Arm / Lüsteklein / Tänzi Tänzi / Flappenzieher Stehbereit / vor Flatter=Gehege; / immerhin Armleuchter rennt geduckt davon / subtil und unvermischt gierig“.

Mit Titeln wie „‘Komm, mein Bote‘, sprach Selene, ‚Schlafwittchen mag sich gedulden.‘“ auf Blatt 22 konstruierte Altenbourg zudem mythologische Bezüge. Als Tochter von Hyperion und Theia sowie als Schwester von Helios (Sonne) und Eos (Morgendämmerung), ist Selene in der griechischen Mythologie die Verkörperung des Mondes. Als sie sich (nach Sappho) in den irdischen Fürsten Endymion (von Altenbourg augenzwinkernd als „Schlafwittchen“ bezeichnet) verliebt, wird dieser von Zeus vor die Wahl gestellt, zu sterben oder auf ewig (geschützt vor Tod und Alter) schlafend an Selenes Seite zu leben. Er entschied sich entgegen seiner irdischen Leidenschaften für Selene.

Gerhard Altenbourg: Schnepfenthaler Suite, Blatt 87, Stiftung Gerhard Altenbourg © VG Bild-Kunst, Bonn 2022

Blatt 47 trägt den Titel „Kalypso, Kalypso; Rauschen und Hoffen“. Mit wenigen Nadelstrichen wird ein nach oben blickendes, arm- und beinloses Wesen von einer weiteren Gestalt umfangen, das gegen eine schwamm- oder korallenähnliche Struktur gelehnt scheint. Die Betitelung Altenbourgs spielt auf den fünften Gesang der Odyssee Homers an, in welchem sich die schöngelockte Göttin und Zauberin in den schiffbrüchigen Helden Odysseus verliebt, diesen betört und mehrere Jahre auf der Insel Ogygia festhält. Mit „Rauschen und Hoffen“ dürfte auf dessen missliche Lage angespielt sein, da er immer wieder in einen rauschähnlichen Zustand gerät und nicht mehr Herr seiner Sinne ist. Auf Befehl von Zeus muss Kalypso dem Wunsch nach Freilassung aber letztlich nachkommen.

Das 87. Blatt „Im Kopf ein pfiffiges Luder; schau, schau“ trägt dagegen selbstreflexive Züge; Kopf (angedeutetes Selbstbild?) und durch quer gezogene Linien angedeutete Landschaft (des Schnepfenthals?) werden durch die Kombination mit dem „Luder“ ironisch aufgeladen.

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