Ingo Schulze
Zu den "Träger"-Radierungen von Peter Schnürpel


/ Was Benjamin für den Erzähler in Anspruch nimmt, gilt auch für
den Zeichner. "Der Tod ist die Sanktion von allem ... Vom Tode hat
er seine Autorität geliehen." Am Beginn dieser Blätter steht der
Tod. / Die Linien und Flächen ermuntern das Auge, Figuren zu
sehen. Erst durch die Figuren entsteht der Raum. An ihnen wird die
Schwerkraft erfahrbar. / Ich weiß nicht, wodurch die Poesie in
diese Radierungen kommt. Ich spüre nur ihr Vorhandensein. Sie
umgibt die Körper wie eine Seele. / Gefühle und Ideen solange im
Gedächtnis behalten, bis sie sich in Formen umsetzen. Für
jemanden, der diese Gefühle und Ideen teilt, wirkt ihre Darstellung
befreiend. / Stehen und Liegen, Tragen und Fallen, Stützen und
Stürzen sind so elementare Konstellationen, daß sie ein Künstler-
leben ausfüllen können. / Diese Radierungen erscheinen wie
Menschen, die ich an den Gesten wiedererkenne. / Das Vertrauen,
das man braucht, um sich aufzustützen. Auch der Tragende muß
sein Gewicht verlagern und läuft Gefahr, zu stürzen. / Morgens
nahm er meine Hand zwischen seine, eine Berührung zwischen
Händedruck und Streicheln. Ihn heraufzuziehn aus dem Bett, mit
"eins, zwei - und drei". Oder ich beugte mich herab, er legte die
Arme um meinen Hals, ich umfaßte seinen Oberkörper, und dann
standen wir auf - oder fielen gemeinsam zurück. Auf dem Weg zum
Bad lief er hinter mir, beide Hände auf meine Schultern gestützt. In
den letzten Wochen legte ich mir seinen Arm um den Hals, während
meine Linke seine Taille umfing. / Manchmal lassen Berührungen
einen Raum zurück und umgeben den Körper wie eine Atmosphäre -
vergleichbar dem Gefühl für Wege und Gassen, das haften bleibt,
wenn man eine Stadt wie Venedig oder Siena verläßt. Dieses Gefühl
von Behütet-Sein, das sich plötzlich einstellt, als wäre man noch in
der Stadt, als wäre er noch da.

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